9 Minuten Lesezeit

E-Vergabe in der Praxis: Chancen und Risiken

Autor
Dr. Hans-Peter Obladen
Veröffentlicht
15.07.2019

Akademie Dr. Obladen (ADO): Herr Prof. Dr. Zeiss, warum gibt es überhaupt Vergabeverfahren? Welchem Zweck dienen sie?

Prof. Dr. Christopher Zeiss (Z): Öffentliche Auftraggeber geben fremdes Geld aus. Die staatlichen Finanzmittel hat nämlich zuvor der Steuerzahler hart erarbeitet. Daher schuldet der Staat den Nachweis, die finanziellen Mittel nicht zu verschwenden oder willkürlich einzelne Personen zu bevorzugen. Die Durchführung von Vergabeverfahren dient dazu, diesen Nachweis zu führen. 

ADO: Können Sie dafür mal ein Beispiel nennen?

Z: Wenn ich mein eigenes Geld ausgebe, kann ich mir dafür ein Porsche-Fahrzeug, einen gira-Elektroartikel einen Lenovo PC, ein USM Haller Regal oder ein Apple iPhone ein kaufen. Ich schulde dazu niemandem Rechenschaft. Wenn die Stadtverwaltung teure Markenprodukte kaufen will, muss sie dem Steuerbürger diese Ausgabe erklären können. Die ordnungsgemäße Durchführung eines Vergabeverfahrens ist Mindestvoraussetzung, um derartige Ausgaben vor dem Steuerzahler rechtfertigen zu können: Dabei belegt insbesondere die Durchführung einer öffentlichen Ausschreibung, dass wirtschaftlich und sparsam beschafft wurde. 

ADO: Mittlerweile ist die Vergabe auf elektronischem Wege rechtlich verpflichtend geworden. Sind Sie der Meinung, dass dies sinnvoll ist?

Z: Noch immer gibt es leider keine einheitlichen Regelungen zur E-Vergabe. Immerhin besteht die Gemeinsamkeit aller vergaberechtlichen Regelungen für Beschaffungen der Kommunen darin, dass alle Vergabeunterlagen online zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies erfordert zwar für viele öffentliche Auftraggeber einen erheblichen Umstellungsaufwand, da die Beschaffungsstrategie geändert werden muss. Es ist nicht mehr zulässig, einfach schon einmal die Bekanntmachung zu starten und dann erst die Vergabeunterlagen fertig zu stellen. Für die Bieterseite ist dies sehr gut. Ein Bieter kann sich jetzt erst die Vergabeunterlagen anschauen und damit entscheiden, ob sich die Beteiligung an dem Vergabeverfahren für ihn lohnt.

Von der Frage der Zurverfügungstellung der Vergabeunterlagen zu trennen ist die Frage, ob nur noch elektronische Angebote eingereicht werden dürfen. Dies ist jedenfalls oberhalb der Schwellenwerte und im Anwendungsbereich der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) bei Auftragswerten oberhalb von 25.000€ verpflichtend. Bei Auftragswerten im Bereich der UVgO unterhalb von 25.000€ und im Anwendungsbereich der Vergabeordnung für Bauleistungen (VOB) unterhalb des EU-Schwellenwerts entscheidet der Auftraggeber über die Verpflichtung, Angebote nur in elektronischer Form einzureichen. Dabei kann die Entscheidung für die elektronischen Angebote eine erhebliche Erleichterung für Auftraggeber und Bieterseite darstellen. In der Regel liegen Vergabeunterlagen und Angebote ohnehin in elektronischer Form vor. Die E-Vergabe erspart damit allen Beteiligten sinnloses und ineffizientes Ausdrucken und Einscannen der Unterlagen. Wer jemals Beschaffungsverfahren mit mehreren Losen und umfangreichen Leistungsbeschreibungen betreut hat, weiß dies zu schätzen.

Die vollen Vorteile der E-Vergabe werden jedoch nur genutzt, wenn konsequent alte Zöpfe abgeschnitten werden. Damit möchte ich besonders den Hinweis darauf verbinden, dass wir fast keine „rechtsverbindlichen Unterschriften“ mehr in der öffentlichen Beschaffung brauchen. Und auch keine elektronischen Signaturen. Die Formanforderungen sind nämlich bewusst heruntergeschraubt worden, um die Akzeptanz der E-Vergabe zu verbessern. Es reicht nämlich aus, wenn ein Angebot in Textform eingeht. Die Textform ist im Kern gewahrt, wenn zu erkennen ist, welche Firma hier ein Angebot einreicht. Das Formerfordernis wird daher bereits mit einem Briefkopf oder einer Eintragung der Kontaktdaten erfüllt. Eine Unterschrift braucht es nicht mehr.

ADO: Worin liegen denn die Herausforderungen, warum klappt es nicht immer so, wie es soll?

Z: Gern wird die bisher nicht erfolgte Umstellung auf die E-Vergabe mit dem „alten Handwerksmeister“ begründet, der grundsätzlich nur handschriftlich ausgefüllte Angebotsvordrucke einreicht. Dazu wird auch auf die langsamen Internetverbindungen verwiesen. Aber das ist „Bullshit“: Der alte Handwerksmeister hat eine Sekretärin in seiner Buchhaltung, die das Internet bedienen kann. Und langsames Internet wird erst bei riesigen Datenmengen zum Problem. Und die finden wir eher bei Beschaffungen im Oberschwellenbereich, an denen der alte Handwerksmeister sich ohnehin nicht beteiligt. Die wahren Probleme für die Bieterseite liegen eher darin begründet, dass wir nicht nur im Vergaberecht sondern auch bei den verwendeten E-Vergabelösungen eine Kleinstaaterei haben. Zu oft muss ein Bieter sich auf verschiedene E-Vergabelösungen einstellen und häufig braucht er dafür auch jeweils eine leicht geänderte Softwareausstattung. Grund hierfür ist besonders, dass verschiedene E-Vergabelösungen unterschiedliche Java-Versionen auf dem Rechner des Bieters voraussetzen. Dabei sind veraltete Java-Versionen ein klassisches IT-Sicherheitsrisiko.

Bundesweit tätige Großunternehmen reagieren darauf, indem sie parallel mehrere Stand-Alone-PCs mit unterschiedlicher Softwareausstattung vorhalten. Eine gute Nachricht dazu: Die ersten großen Anbieter haben von Java auf „html 5“-Lösungen umgestellt. Auftraggeber müssen sich schließlich bewusst machen, dass das Vergabeportal ihr Erfüllungsgehilfe ist (§ 278 BGB). Das heißt, Fehler des Vergabeportals werden dem Auftraggeber zugerechnet. Ist das Vergabeportal z.B. wegen einer Wartung nicht erreichbar und kann der Bieter sein Angebot nicht einreichen, so ist dies dem Auftraggeber zuzurechnen. Das nicht erreichbare Vergabeportal wirkt wie ein zugeschweißter Briefkasten des Auftraggebers. Davon zu trennen ist freilich die Frage, ob der Auftraggeber für entstandene Schäden Regress beim Vergabeportal nehmen kann.

ADO: Was genau muss online zur Verfügung gestellt werden, damit alles reibungslos klappt?

Z: Alle Vergabeunterlagen, d.h. Leistungsbeschreibung, Eignungskriterien und geforderte Nachweise, Zuschlagskriterien und alle weiteren Unterlagen, z.B. Vertragstexte, Angebotsvordrucke und besondere Vertragsbedingungen. Zusätzlich muss den Bietern erklärt werden, wie die konkret verwendete E-Vergabe-Lösung funktioniert. Ich empfehle dringend auf die Vermeidung etwaiger typischer Bedienfehler hinzuweisen. Beispielsweise passiert es immer wieder, dass Bieter versehentlich Angebote über den Kommunikationskanal übermitteln. Hierzu müssen die Bieter darauf hingewiesen werden, dass solche Angebote ausgeschlossen werden müssen. Dazu noch ein kleiner Tipp: Maßstab sollte der DAU („Dümmster anzunehmender User“) sein. Solange die E-Vergabe-Lösungen nicht Fehlbedienungen verhindern können müssen eben entsprechende umfangreiche Erläuterungen beigefügt werden, im Idealfall auch mit Screenshots.

ADO: Wer haftet denn bei Übermittlungsfehlern?

Z: Dies wird nach Risikosphären unterschieden. Sendet der Bieter sein Angebot zu spät ab oder blockiert seine eigene IT-Sicherheitsausstattung (z.B. Firewall, Proxy-Server) die Sendung von Angeboten, so haftet der Bieter. Kann das Angebot nicht eingereicht werden, weil das E-Vergabeportal gerade „offline“ ist, so ist dafür der Auftraggeber verantwortlich und muss entsprechend die Angebots- oder Teilnahmeantragsfrist verlängern.  Wenn das gesamte Internet nicht funktioniert, handelt es sich um höhere Gewalt: Die Angebotsfristen sind entsprechend zu verlängern. Freilich stellt sich die Frage, woher wir wissen, in wessen Sphäre denn nun der Fehler zu verorten ist: Dafür gibt es aber die bewährten Regeln für die prozessuale Darlegungs- und Beweislast. Daher muss der Bieter zunächst die Verspätung seines Angebots entschuldigen, indem der darlegt, wie er die rechtzeitige Übermittlung seines Angebots eingeleitet hat. Nach einer aktuellen Entscheidung soll den Auftraggeber dabei auch die Verpflichtung treffen, zu untersuchen, ob die Verspätung nicht auch durch in seiner Sphäre liegende Umstände verursacht wurde (VK Westfalen, Beschl. v. 20.02.2019 – VK 1-40/18).Vor einem Ausschluss des Bieters muss diesem grundsätzlich Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.

ADO: Müsste das Verfahren aus Ihrer Sicht verbessert werden?

Z: Oh ja – da könnte ich jetzt einen abendfüllenden Vortrag dazu halten. Stattdessen will ich mich mal nur auf zwei besonders praxisrelevante Punkte beschränken. Erstens: Wir brauchen standardisierte Bedienschemata für die bieterseitigen Bedienelemente der E-Vergabe-Lösungen, also Portal und Client. Dies ist das wirksamste Mittel gegen Fehlbedienungen und fördert auch die Beteiligung eines größeren Kreises von Unternehmen. Die Unternehmen werden so nicht mehr abgeschreckt, wenn sie sich mal außerhalb der heimischen Region an Ausschreibungen beteiligen wollen. Zweitens: Die Textform muss konsequent umgesetzt werden. Derzeit wird z.B. in Landesvergabegesetzen teilweise noch Schriftform für Erklärungen zu Tariftreue und Mindestlohn verlangt. Diese Forderung provoziert Unsicherheiten und unnötigen bürokratischen Aufwand, wenn der Rest des Angebots in Textform eingereicht werden kann. 

ADO: Wo gibt es umfassende Informationen für Personen, die beruflich mit der E-Vergabe zu tun haben? Können Sie bestimmte Nachschlagewerke empfehlen?

Z: Systematische Erläuterungen zu den Rechtsgrundlagen der E-Vergabe finden Sie im juris-Praxiskommentar zum Vergaberecht, §§ 9ff. VgV (5. Auflage 2016 – aber online bereits z.B. mit VOB/A 2019). Im Übrigen handelt es sich um ein junges Thema. Es gibt jede Woche neue, teilweise auch überraschende Entscheidungen. Daher empfehle ich regelmäßige Lektüre von praxisorientierten Fachzeitschriften (z.B.  https://www.vpr-online.de/) oder besonders auch den Besuch eines aktuellen Seminars.

ADO: Die Akademie Dr. Obladen bietet folgende Weiterbildung zum Thema an: Seminar: E-Vergabe in der Praxis

Herr Prof. Dr. Zeiss, vielen Dank für das Gespräch! 

 

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